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Region
18.06.2025

Könnte auch bei uns ein Dorf verschüttet werden?

Wird speziell überwacht: Das Gebiet Gügli oberhalb von Seewis.
Wird speziell überwacht: Das Gebiet Gügli oberhalb von Seewis. Bild: zVg
Die Situation in Blatten bewegt auch die Menschen in der Region. Wenn man sieht, mit wie viel Wucht und wie schnell die Natur ein ganzes Dorf verschlucken kann, wird einem gleich flau im Magen. Um herauszufinden, wie die Situation im Einzugsgebiet des «Prättigauer & Herrschäftlers» aussieht, haben wir mit Gian Claudio Leeger gesprochen, Spezialist für Naturgefahren. Er arbeitet als Regionalforstingenieur beim Bündner Amt für Wald und Naturgefahren.

«Die Region Prättigau, Bündner Herrschaft, aber auch die Gemeinden im Kreis Fünf Dörfer liegen in den Alpen», sagt Leeger. Entsprechend kämen in diesen Regionen auch alle gravitativen Naturgefahrenprozesse wie Lawinen, Wasser, Sturz und Rutschung vor. «Für die Talgebiete im Kreis Fünf Dörfer und der Bündner Herrschaft sind insbesondere die Wasser- und lokal auch Sturzprozesse durch Steinschlag und Blockschlag relevant, welche in den Gefahrenkarten zu Gefahrengebieten führen.» Im Prättigau sei aufgrund der vorherrschenden Geologie zudem der Prozess Rutschung und in den höheren Lagen auch Lawinen von grösserer Bedeutung. Heutzutage werde die Gefährdung durch gravitative Naturgefahrenprozesse in Gebieten, in denen eine massgebende menschliche Nutzung stattfinde, die sogenannten Erfassungsbereiche, im Auftrag des Kantons Graubünden mittels prozessgetrennten Gefahrenkarten beurteilt. «Unter Berücksichtigung von vielen verschiedenen Grundlagen, beispielsweise dem Ereigniskataster, dem Schutzbautenkataster, der Gefahrenhinweiskarten, werden diese Gefahrenkarten durch spezialisierte Ingenieurbüros anhand der schweizweit geltenden Richtlinien und technischen Hilfsmittel erarbeitet.»

Die vier Gefahrenstufen

Schlussendlich gebe die Gefahrenkarte Auskunft über die Gefahrenart, die Häufigkeit (Wiederkehrperiode), zur räumlichen Ausdehnung der Gefährdung und zum Gefährdungsgrad. «Dieser wird mittels roter (erhebliche Gefährdung), blauer (mittlere Gefährdung), gelber (geringe Gefährdung) und gelb-weiss-gestreifter (Restgefährdung) Farbe dargestellt.» Laut Gian Claudio Leeger beraten die kantonalen Gefahrenkommissionen die Ergebnisse der Gefahrenkarten und setzen diese mittels des Plans der Gefahrenkommission in behördenverbindliche Gefahrenzonen um. «Diese Gefahrenzonen werden sodann von den Gemeinden in die Nutzungsplanung übernommen und damit eigentümerverbindlich in der Raumplanung wirksam.» Gefahrenkarten und Gefahrenzonen sind öffentlich zugänglich und können im Internet unter ‘Naturgefahren in Graubünden’ angeschaut werden. Direkt nachschauen, wo ihre Heimat liegt, können Sie, wenn Sie den beigelegten QR-Code scannen.

Permanente Rutschungen im Prättigau

Rutschungen gebe es im Kanton Graubünden und natürlich auch im Prättigau viele, sagt Leeger. Doch bei den Rutschungen werde unterschieden, ob es sich um eine permanente Rutschung, eine spontane Rutschung oder eine Hangmure handle. «Permanente Rutschungen sind in der Regel tiefgründig. Das heisst, der Gleithorizont befindet sich mehr als 30 m unter Terrain. Auch möglich ist, dass sie mittelgründig sind, dann befindet sich der Gleithorizont in 2 m bis 30 m Tiefe. Die spontanen Rutschungen und Hangmuren treten in der Regel in den obersten Bodenschichten bis ca. 2 m auf.» Letztgenannte erfolgen meist während eines grösseren Niederschlagereignisses beispielsweise bei Gewittern oder in Kombination mit der Schneeschmelze, wenn viel Wasser im Spiel sei. «Permanente Rutschungen dagegen rutschen, wie es der Name schon sagt, permanent, also immer. Beispiele für tiefgründige permanente Rutschung im Prättigau gibt es beispielsweise in Seewis, Schiers, Fideris, Saas und Klosters.»

Blatten ist im Tal nicht möglich

Trotz den permanenten Rutschungen gebe es aktuell keinen Grund zur Panik, sagt der Fachmann beim Kanton. «Aufgrund der Lage und den topografischen Verhältnissen unserer Region ist ein vergleichbares Ereignis wie in Blatten sehr unwahrscheinlich.» Das liege insbesondere daran, dass unsere Region viel weniger von den klassischen periglazialen Prozessen betroffen sei. «Gebiete mit Permafrost sind nur noch in sehr reduziertem Ausmass vorhanden. Zum Beispiel an der Nordseite des Rätikons, der Sulzfluh, am Madrisahorn oder am Silvrettahorn.» Bestehende Gletscher wie beispielsweise der Silvretta- oder Verstanclagletscher in Klosters seien aber allesamt sehr weit vom eigentlichen Siedlungsgebiet entfernt. Auf der einen Seite beruhigt das die Nerven, doch anderseits können spontane Rutschprozesse beispielsweise in Form von Hangmuren oder in Kombination mit Wasser vielerorts auftreten. Doch meist seien diese in ihrem Ausmass eher kleinflächig und lokal begrenzt. In höheren Lagen wie beispielsweise in St. Antönien erhalte der Gefahrenprozess Lawine eine wesentlich grössere Bedeutung, sagt Leeger. «Bei starken, aussergewöhnlichen Niederschlagsereignissen können in unseren Tälern aber auch Seitenbäche anspringen und Material in Form eines Murgangs in die Talgebiete transportieren.»

Gian Carlo Leeger / Über den QR-Code kommen Sie direkt zur Gefahrenkarte. Bild: zVg

Breites Schutzpaket

Für die Sicherheit der Menschen werde vom Bund, vonden Kantonen und Gemeinden einiges unternommen, um auch in Zukunft frühzeitig Gefahren zu erkennen und andererseits bei einem Eintreten des Ereignisses das Schadenausmass zu reduzieren. «Das Management der Naturgefahren erfolgt im Rahmen des integralen Risikomanagements. Dieses beinhaltet eine Kombination von Massnahmen zur Vorbeugung und Bewältigung von Schadenereignissen, aber auch zur Regeneration nach dem Auftreten von Schadenereignissen.» Nebst den bereits erwähnten Gefahrengrundlagen, welche Auskunft darüber gäben, wo, in welcher Häufigkeit und in welchem Ausmass mit einer Gefährdung gerechnet werden müsse, werde das Wettergeschehen durch das kantonale Warnteam auf Stufe Kanton und die lokalen Naturgefahrenberater in den einzelnen Gemeinden laufend beobachtet. So könne bei einer drohenden Gefahrenlage frühzeitig gewarnt und entsprechende organisatorische Massnahmen eingeleitet werden. «Interventionskarten und Notfallplanungen, welche die Gemeinden als Bauherrschaft erarbeitet haben, helfen im Ereignisfall, das Schadenausmass zu reduzieren.» Technische Schutzmassnahmen wie beispielsweise Lawinen- oder Bachverbauungen sowie Steinschlagschutznetze helfen laut Leeger zudem, das Ausmass im Ereignisfall einzugrenzen und mögliche Schäden soweit als möglich abzuwenden. «Bei konkreten Bauvorhaben in Gefahrenzonen sorgen zudem Objektschutzmassnahmen für einen zusätzlichen Schutz. Im Rahmen der Schutzwaldpflege werden die wichtigen Schutzwälder gepflegt, sodass sie ihre Schutzfunktion dauernd und möglichst uneingeschränkt erfüllen können.»

Natur kann, aber muss nicht reagieren

Hin und wieder sei für die Beurteilung und Überwachung zusätzliches Prozessverständnis notwendig. Dann werde für die Gefahrenstelle durch die Gemeinde als Bauherrschaft ein Überwachungssystem oder gegebenenfalls auch ein Alarmierungssystem installiert und weitere detailliertere Untersuchungen durchgeführt. Wie das aussieht, zeigt die Überwachung des Gebietes «Gügli» in Seewis, wo mittels terrestrischer Messungen einmal pro Jahr verschiedene Punkte eingemessen und die Messergebnisse durch ein spezialisiertes Geologiebüro interpretiert werden. Es wird momentan heiss diskutiert, dass wir Menschen uns trotz Klimaerwärmung warm anziehen müssen. Gian Claudio Leeger, der jeden Tag mit der Natur und ihren Gefahren arbeitet, hat eine differenzierte Meinung zum Ganzen. «Die Natur ist ein komplexes System und entsprechend sind auch Naturgefahrenprozesse komplexe Vorgänge, welche auf veränderte Bedingungen reagieren können, aber nicht müssen. Sie werden durch eine Vielzahl von Wechselwirkungen beeinflusst.» Hinsichtlich der Naturgefahrenprozesse lasse sich sagen, dass eine allgemeine Quantifizierung des Einflusses schwierig sei. «Im Rahmen der Erarbeitung von Gefahrenkarten wird aber die Thematik des Klimawandels aufgegriffen und prozessspezifisch mögliche Auswirkungen und deren Relevanz für das Beurteilungsgebiet abgeschätzt.»

Christian Imhof