Eine bewegte Kindheit
1919 erblickte Ursula Gredig in der Walki in Serneus das Licht der Welt. Doch dort blieb sie nicht lange. Schon mit vier Jahren verlor Utti ihre Eltern und eine Schwester an der als Schwindsucht bekannten Infektionskrankheit Tuberkulose. Anschliessend kam das Kleinkind bei ihrer Gotte in Davos unter, wo sie auch den Kindergarten besuchte. Da ihre jüngere Schwester Betty bereits in Saas lebte, sei sie ihr «Ehni» nach gut einem Jahr holen gekommen. Zeitlebens war er für sie nicht nur ein wunderbarer Ersatzvater, er blieb für sie immer ein Vorbild. Ihr Grossvater war damals Landammann und wohnte mit der ganzen Familie im Restaurant Madrisa und habe gut zu den Kindern geschaut. Ihre Familie habe ein Restaurant, ein Landwirtschaftsbetrieb und einen Laden betrieben. Die Zeit damals sei ganz anders gewesen. Wenn man die heutigen Müllberge sieht, die sich überall türmen, kann man es sich nur schlecht vorstellen, wie nachhaltig früher gewirtschaftet wurde. Kehricht habe es in ihrer Kindheit praktisch keinen gegeben. «Die Leute haben ihre eigenen Behälter oder Säcke mitgebracht, wenn sie bei uns in den Laden kamen. Zum Wegwerfen hat es gar nichts gegeben. Die Reste wurden verbrannt, den Tieren verfüttert oder auf den Kompost geworfen.» Im Restaurant sei noch mit Holz gekocht worden, was bei der Seniorin heute noch etwas auslöst. «Wah, dieses Holztragen war schon sehr streng», sagt Ursula Luck-Gredig mit Blick zurück. Elektrifiziert sei das Prättigau wenige Jahre nach ihrer Geburt worden. Bis dahin habe es gegolten, von Hand anzupacken. Lebhaft erinnert sich Luck-Gredig noch an das Saaser-Märktli, wo es erstmals Zitronen feilgeboten wurden. In Saas habe es zudem mehrere Läden für den Grundbedarf gegeben, wobei man damals eher Waren getauscht als einander abgekauft habe. Früher habe es nicht jeden Tag Fleisch gegeben, so dass viele Menschen auch gerne ausserhalb der Jagdzeit zu Selbstversorgern wurden. Das heute selbstverständliche Telefon gehörte in ihrer Kindheit nicht zu der Grundausstattung von jedem Haushalt. «Ich erinnere mich noch gut an das erste Telefon im Dorf. Platz-Masch, der Vehhändler, hatte eines.» Auch das erste Auto, welches 1926 durch das Prättigau fuhr, hat Luck noch genau vor Augen. «Ich habe wirklich gedacht, jetzt kommt der Teufel. Da meine Schwester und ich uns so vor dem Gefährt gefürchtet haben, rannte ich mit ihr auf dem Arm «um unser Leben», stürzte und schlug die Knie auf.»
Nazis im Prättigau
Der wahrhafte Teufel, Adolf Hitler, ergriff 1933 die Macht in Deutschland und führte zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 Krieg mit der Welt. Als der Zweite Weltkrieg losging, war Utti Luck-Gredig gerade 20 Jahre alt und hat somit diese dunkelsten Stunden der Menschheitsgeschichte bewusst erlebt. «Angst hatten wir keine im Alltag, aber Achtung davor, dass es auch in der Schweiz losgehen könnte. Wir hatten damals einfach auch zu viel Arbeit, um Angst zu haben.» Ein Nazi namens Grossmann habe in Saas gelebt. «Das war eine aussergewöhnliche Geschichte mit dem. Der hat einer Frau vorgeschwindelt, dass er Arzt und Pfarrer sei, bis sie ihm ihr Haus überschrieben hat.» Der Mann hatte mit dem bekannten Nazi Wilhelm Gustloff, dem Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation (AO) in der Schweiz zu tun. «Grossmann hat dann eine Telefonleitung von Saas nach Davos bauen lassen.» Zudem habe er seine Haushälterin in den Schutzlibach gestossen, was auch ein bisschen komisch war. Zu diesem Gauner, der auch noch in der Saaser Kirche gepredigt hatte, obwohl er es gar nicht hätte dürfen, könnte man auch ein Buch schreiben. Auch heute nimmt es Utti wunder, was auf dieser Welt so läuft. Sie spricht oft über Trump, Putin und andere Entwicklungen auf der blauen Kugel. Die Alarmglocken läuten bei ihr zwar nicht sofort, wenn totalitäre Persönlichkeiten wieder Feuer streuen. Das vielleicht aus dem Grund, da die Schweiz grösstenteils von den Naziangriffen verschont geblieben ist. Doch als vor fünf Jahren die Coronapandemie unseren Alltag diktierte, hatte die rüstige Rentnerin eine klare Meinung zu einer Impfung. Sie habe gesagt, dass sie diese definitiv nicht brauchen werde. Das sei deutlich weniger schlimm als Krieg.
Das Umfeld ist bestimmend
Wie fast überall herrschte auch in Uttis Leben nicht nur eitel Sonnenschein. «Wo Licht ist, ist auch Schatten», pflegt sie zu sagen, und sie weiss, was sie meint. Ihre Schwester Betty starb mit 18, wie bereits die Eltern von ihr auch an Tuberkulose. Das ist besonders tragisch, da ein Jahr später das Penicillin aufkam und die Erkrankung ausradierte. Die ganze Familie starb an Tuberkulose, nur Utti blieb. Die Invalidität und das allzu frühe Ableben ihres einen Sohnes Andres, der Heimgang ihres Gatten und vor einigen Jahren der plötzliche Tod ihrer Enkel Andi und Valerio prägten ihr Leben mit. Eines der eindrücklichen Kunstbilder von Sohn Andres hängt übrigens zu seiner Erinnerung heute noch an der Wand in Uttis heimeliger Wohnstube. Ihre positive Grundeinstellung ist ihr trotz der zahlreichen Schicksalsschläge nie abhandengekommen. Die Frau ist mit sich im Reinen. Auch wenn früher spürbar mehr Zeit zum «Hengern» auf dem Bänkli vorhanden gewesen zu sein scheint als heute. «Einer hat vorher die Zeitung gelesen und das Neuste gewusst, was er dann den anderen weitererzählt hat.» Doch zurück in die einfachere Zeit möchte Utti nicht mehr, wie sie lachend erklärt. «Alles nochmals zu machen, wäre dann doch ein bisschen zu viel.» Angesprochen auf Tipps, um selbst ein möglichst langes Leben geniessen zu können, sagt die älteste Prättigauerin, dass das Umfeld das A und O sei. Vor allem die Freude an den «Goofen» habe sie vital gehalten. Gerne erinnert sich Utti an die lebhaften Jahre, als die ganze Familie noch zu Hause war. «Jungmannschaft im Haus erhält jung», sagt sie mit Stolz und Schalk. Kein Wunder, dass sie darum über all die Jahre Mittelpunkt der Familie blieb; bis hin zu den Urenkeln im naheliegenden Wohnhaus. Beim Urnani wird auch heute noch fast täglich gemeinsam gegessen, gehengert und im oberen Stock musiziert. Schliesslich ist Utti auch einer der treuesten Fans der familieneigenen «Lenglerkapelle». Doch wieso sie wirklich über ein Jahrhundert alt geworden ist, kann sich Utti selbst nicht erklären. «Ich glaube, sie haben mich einfach vergessen. Es kann schliesslich schon sein, dass hin und wieder eine durch die Maschen fällt.» Was es sicher zu unterstreichen gilt, ist, dass Ursula Luck-Gredig während des ganzen Gesprächs nicht einmal gejammert hat oder irgendwie verbittert geklungen hat. Vielleicht steckt in dieser grundlegenden Fröhlichkeit und dem positiven Weltbild das Geheimnis hinter einem langen und vor allem zufriedenen Leben.