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Kanton
15.10.2024

Ist unser Gesundheitssystem krank?

Bild: Roland Steffen
Mit der Bekanntgabe der Höhe des Prämienanstiegs für die Krankenversicherung für 2025 flammen die Diskussionen wieder auf. Mit Beiträgen aus verschiedenen Gesichtswinkeln versuchen wir in den kommenden Ausgaben, die Situation zu beleuchten, aber auch einen Blick in die Zukunft zu wagen.

Viele Menschen und Familien, geraten immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten, wenn der jeweilige Prämienanstieg, stets um mehrere Prozentpunkte, mitgeteilt wird. Eine Trendwende ist nicht in Sicht, und so stellt sich die Frage, wohin das noch führen soll.

Blick auf die Kostenentwicklung
Nationalrat Martin Candinas ist unser erster Gesprächspartner. Beruflich mit einem Krankenversicherer verbandelt, kennt er als Politiker die Materie natürlich ebenfalls nur allzu gut.
Als Hauptursachen für den ungebremsten Kostenanstieg sieht er die, im Gegensatz zu früher, deutlich gesteigerten Leistungen im Gesundheitswesen, welche jedoch der Bevölkerung auch einen grösseren Nutzen bringen. Gleichzeitig steige die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, verbunden mit Fehlanreizen im System. Dazu gehörten mangelnde Digitalisierung, nicht mehr zeitgemässe Tarife und unverhältnismässig hohe Medikamentenpreise. Und – es bestehe Optimierungsbedarf in der Spitallandschaft und der hohen Administrationslast.

Gleichzeitig bedeute die alternde Bevölkerung einen Kostenfaktor. Das Schweizer Gesundheitswesen basiere auf dem Prinzip der Solidarität zwischen Gesunden und Kranken. Dies bedeutet auch, dass jüngere, gesunde Generationen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, höhere Kosten der älteren Generationen mitzutragen. Aus seiner Sicht sollte die Debatte über Reformen im Gesundheitswesen jedoch nicht bei Faktoren ansetzen, welche kaum beeinflusst werden können. Wir alle seien froh, dass wir eine steigende Lebenserwartung haben. Zum Glück würden viele ältere Menschen durch Angehörige betreut, sonst wären die Gesundheitskosten noch höher. Wir sollen den Angehörigen dankbar sein für ihren Einsatz und Anreize schaffen, dass sich mehr Menschen in der Pflege ihrer Angehörigen engagieren.

Einflussnahme der Politik
Steigende Gesundheitsausgaben sind nicht ausschliesslich ein schweizerisches Phänomen. Es gibt sie überall dort, wo Menschen älter werden und Zugang zu moderner Gesundheitsversorgung erhalten—unabhängig vom politischen System. Aber, die Politik sitzt an den Schalthebeln. Als Beispiel nennt Candinas die Medikamentenpreise. Es gibt für ihn keinen plausiblen Grund, wieso Generika in der Schweiz um ein Mehrfaches teurer sind als im benachbarten Ausland. Natürlich benötige die heimische Pharmaindustrie Einnahmen, um bedeutende Investitionen in Forschung und Entwicklung am Standort Schweiz zu finanzieren. Allerdings seien sie nicht hier, weil sie die Schweiz lieben, sondern weil die Schweiz interessante Rahmenbedingungen bietet.
Zudem seien die Kantone verantwortlich für die Spitäler. Hier brauche es mehr Zusammenarbeit unter Spitälern und auch überkantonal. Generell müssten Anreize so gesetzt werden, dass überflüssige Behandlungen endlich wegfallen. Es fehlen heute die richtigen Anreize. Es scheint, dass sich alle am System bedienen, meint der Bündner Nationalrat.

Föderalismus – gut oder schlecht?
Die Haushalte der Kantone und Gemeinden werden nicht zuletzt durch Massnahmen zur Prämienverbilligung stark belastet. Candinas meint, dass Prämienverbilligungen tatsächlich eine immer wichtigere Rolle spielen, erst recht bei den aktuellen jährlichen Kostensteigerungen. Dies zeige den dringenden Reformbedarf des Systems deutlich auf. Fehlanreize seien zu eliminieren, damit Kostensteigerungen in diesem Umfang gestoppt werden können. Man dürfe jedoch keinen falschen Rezepten verfallen. Seine Partei hat bereits vor der Lancierung der gescheiterten Kostenbremse-Initiative dargelegt, dass heute 20% oder 6 Milliarden Franken der Kosten in der obligatorischen Grundversicherung ohne Qualitätsverlust eingespart werden könnten.
Candinas meint, dass Föderalismus im Gesundheitswesen hilfreich sein kann und zu mehr Effizienz beitrage. Aber es brauche eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Kantonen. Die Kantone sind näher dran an den regionalen Gegebenheiten und ihrer Bevölkerung als der Bund. Sie kennen die Bedürfnisse und können auf regionale Besonderheiten eingehen. Reformen im Gesundheitswesen müssten von der Bevölkerung mitgetragen werden und dies gehe nicht ohne die Kantone. Zudem gelte es, die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen wieder klarer festzulegen. Wenn der Bund in kantonale Kompetenzen hineinregiere, führe dies selten zu besseren und vor allem günstigeren Lösungen.

Das oft zitierte Thema Einheitskasse
Dazu vertritt Martin Candinas eine klare Meinung: «Eine Einheitskrankenkasse würde den gesunden Wettbewerb im System unterbinden und mehr staatliche Bürokratie produzieren. Die Zustände in Ländern mit Einheitskasse seien kein Vorbild für die Schweiz – weder für eine Verschlechterung der Behandlungsqualität noch für lange Wartelisten und mehr Bürokratie. Die Krankenkassen seien neben Kundinnen und Kunden die einzigen, welche die Leistungserbringer kontrollieren. Sie haben ein eminentes Interesse daran, unnötige Leistungen und Kosten zu verhindern, damit sie im Wettbewerb zwischen den Kassen besser dastehen. Mit attraktiven Angeboten wie Hausarztmodelle fördern sie die Qualität und verhindern unnötige Arztkonsultationen. Sie haben auch ein grosses Interesse, dass der Kunde zufrieden ist. Eine staatliche Einheitskasse wäre nie so kostenbewusst und kundenorientiert unterwegs.»

Der gewagte Blick in die Zukunft
Das Schweizer Volk kann sich am 24. November zur Vorlage für eine einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen äussern. Damit würden die Prämienzahlenden endlich entlastet. Diese Vorlage ist breit abgestützt. Die stationären Kosten für medizinische Behandlungen werden heute zu 55 Prozent durch die Kantone und zu 45 Prozent durch die Krankenversicherungen getragen. Die ambulanten Kosten hingegen werden vollständig, zu 100 Prozent, durch die Krankenversicherer und somit über die Prämien der Versicherten gedeckt. Candinas betont, dass dies zu teuren Fehlanreizen führe, welche endlich beseitigt werden müssen. So würde die Qualität erhöht und die richtigen finanziellen Anreize gesetzt.

Allerdings sei es illusorisch zu meinen, dass Kostensteigerungen beseitigt werden können. Das Gesundheitswesen werde teurer; die Frage sei, in welchem Ausmass die Kosten steigen. Ziel müsse sein, die jährliche Kostensteigerung zu verringern. Daran müssten wir alle gemeinsam arbeiten, Leistungserbringer, Politik und Bevölkerung. Am 24. November könne das Stimmvolk mit seinem Entscheid zur einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen einen Schritt in diese Richtung bewirken.

Peter Müller