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Schiers
10.01.2024
10.01.2024 06:00 Uhr

«Wir wollen eine Brücke zum Dorf schlagen»

Bild: Christian Imhof
Am 9. September 2023 stand im P&H eine Mitteilung der Staatskanzlei Graubünden, die den Titel «Brückenangebot wird eingestellt» trug. Dies sorgte bei verschiedenen Leserinnen und Lesern für Verwirrung, da man beim Überfliegen der Meldung fast schon denken konnte, dass das Bildungszentrum Palottis Ende des Schuljahrs seinen Betrieb einstellt. Ein Besuch in Schiers zeigt, dass dieser Fall definitiv nicht eintreten wird, denn nicht nur die Klassen, sondern auch das Internat sind so gut ausgebucht, wie schon lange nicht mehr.

Viele Dinge haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert im Bildungszentrum Palottis. Die Institution, die früher von vielen scherzhaft als «Zwätschgasilo» bezeichnet wurde, ist heute mehr, als man auf den ersten Blick vielleicht erahnen würde. In den zwei Klassen, die den Namen Schulisches Brückenangebot oder kurz SBA tragen, finden sich 21 Schüler:innen, denen die Berufswahl noch zu früh kommt oder die Zeit bis zum Beginn der Lehre optimal nutzen möchten. Sie alle erhalten dank dem Zwischenjahr die Möglichkeit nochmals ein wenig zu reifen. In den anderen zwei Klassen dreht sich alles um die Integration. Dieses Integrations-Brückenangebot, kurz IBA wird von 20 Flüchtlingen wahrgenommen. Hier feilen die Jugendlichen weiter an ihren sprachlichen Fähigkeiten und lernen Sitte und Gebräuche der Schweiz kennen. Vor allem durch die bunte Durchmischung dieser vier Klassen bei alltäglichen Beschäftigungen wie dem Essen oder Freizeitaktivitäten oder auch beim Internat wird eine aktive Integration gelebt und die Vielfalt der Kulturen zelebriert.

Das Bündner Sozialjahr wird abgeschafft
Die 41 Jugendlichen im Alter zwischen 16 bis 25 Jahren beweisen, dass die Angebote vom Bildungszentrum Palottis nach wie vor sehr gefragt sind. Anders sieht es hingegen beim Sozialjahr, dem sog. «Bündner Sozialjahr» oder kurz BSJ aus. Da dieses Projekt, bei welchem Praktika im Gesundheitswesen oder als Heim- und Familienhilfe im Fokus stehen, nur noch gerade fünf Jugendliche in diesem Jahr begeistern konnte, zog der Kanton Graubünden die Reissleine und stellte das BSJ ein. Ursprünglich sei dieses als Überbrückung geschaffen worden, sagt der Präsident des Vereins Palottis, Valentin Luzi. «Früher durften Frauen erst als 18-Jährige beispielsweise Krankenschwester oder weitere Frauenberufe erlernen, weshalb das BSJ eine Zeit lang sehr gefragt gewesen ist. Ab Ende dieses Schuljahrs, also Ende Juli 2024 wird es nun komplett abgeschafft. Und doch, es gibt einige Alternativen und es ist überhaupt nicht so, dass die Jugendlichen fallen gelassen werden.» Das Bildungszentrum Palottis durfte in den letzten Jahren die Schülerinnen des BSJ für einige Wochen in den schulischen Fächern in das Brückenjahr SBA integrieren und sie so schulisch fit halten.

Aufgehoben im Palottis
Luzi, der erst seit sieben Monaten als Präsident des Vereins waltet, ist begeistert, welche Wirkung das Palottis auf die jungen Geister ausübt. «Bei der Abschlussfeier hat ein Schüler gesagt, dass er jetzt wieder gerne in die Schule gehe und sich in diesem Jahr zum ersten Mal selbst kennen lernen konnte. So etwas werte ich als grossen Erfolg. Es ist schön zu sehen, wie wir mit dem Bildungszentrum Palottis den Jugendlichen den Einstieg ins Berufsleben erleichtern können und sie die Möglichkeit erhalten, in diesem Jahr bei uns zu reifen.» Sehr beeindruckt sei er auch vom unbändigen Lernwillen der Flüchtlinge, die immer auch bei den freiwilligen Angeboten eifrig mitmachen.» Schul- und Internatsleiter Jann Thöny pflichtet ihm bei. «Das Palottis ist ein Auffangbecken für Lebenswege, die noch nicht klar definiert sind und entsprechend noch Zeit benötigen. Hier haben die Jugendlichen die Möglichkeit Selbstbewusstsein zu tanken und auch die Unentschlossenen wissen anschliessend, in welche Richtung sie gehen wollen.» Die Zeiten hätten sich geändert, das weiss auch der pensionierte Kantonsmitarbeiter Luzi. «Früher war es oft so, dass man Frauen sagte, dass sie nichts lernen müssen, da sie mit der Zeit sowieso für die Kinder und den Haushalt zuständig sein werden. Heutzutage sind die grosse Mehrheit der Erwachsenen erwerbstätig. Das kippt die alten Rollenbilder und führt dazu, dass inzwischen in einzelnen Familien die Frauen für den Unterhalt der Familie zuständig sind.»

Vereinfachung der Strukturen

Beim Palottis ist im vergangenen Jahr einiges gegangen, auch personell. Aus einer Dreierkonstellation, zuständig für Betrieb, Administration und Schule ist seit dem 1. November 2023 eine Zwei-Personen-Geschäftsführung geworden. Die Verwaltung leitet Patrik Herrmann, die Schule und das Internat Jann Thöny. Dies sei eine optimale Lösung, sagt der Letztgenannte, der ganz in der Nähe des Bildungszentrums mit seiner sechsköpfigen Familie lebt. «Durch diese Vereinfachung ist die Dynamik anders und jeder kann dort wirken und sich einbringen, wo er seine Stärken hat.» Beim Palottis gefalle es ihm vor allem, weil die Lehrerpersonen den Schüler:innen sehr viel beibringen können, wofür bei der regulären Schule oft die Zeit fehle. «Der Unterricht hier ist nicht so trocken, was mir sehr zusagt. Die Dinge, die oft am Schulsystem kritisiert werden, dass es beispielsweise zu akademisch sei, versuchen wir zu meiden. Hier können die Jugendlichen sich im Garten, in der Hauswirtschaft oder auch im handwerklichen Bereich verwirklichen. Es ist immer wieder schön zu sehen, wie durch das einfache Ausprobieren eine Freude für etwas geweckt wird, dass die Jugendlichen oft das ganze Leben lang begleitet.»

Palottis gehört zum Dorf
Neben dem Kompass, welchen die Verantwortlichen den Jugendlichen mit auf den Weg geben, sei es ihnen ein wichtiges Anliegen, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, sagt Valentin Luzi. «Durch den Tagesbetrieb sind die Jugendlichen rund um die Uhr hier in Schiers betreut. In den vergangenen Jahren ist es leider ein wenig vergessen worden, zu zeigen, dass das Palottis zum Dorfleben gehört und eine echte Bereicherung ist.» Aus diesem Grund sei es wichtig dies wieder aufleben zu lassen und sich auch in Zukunft wieder häufiger in der Gemeinde zu zeigen. Jann Thöny lebt mit den Schüler:innen eine Kultur der offenen Tür und freut sich, wie oft Schülerinnen und Schüler für einen kurzen «Hengert» bei ihm im Büro vorbeischauen. Das Palottis sei ein Teil des Dorfes und das Dorfvolleyballturnier, das Adventsfernster oder weitere Aktivitäten sind gute Gelegenheiten, zu beweisen, dass auch die Bevölkerung vom Multikulti-Bildungszentrum sehr profitieren kann. «Wir machen uns stark für Brücken im Leben und zwischen Kulturen. Nun wollen wir auch noch eine Brücke zum Dorf schlagen.»

Christian Imhof