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Erfülltes Leben mit Kindern

Bild: zVg
Sie kamen zu Dora Conzett ins Nest geflogen, sie wurden abgestellt, nicht mehr abgeholt, vergessen oder waren Grund für Streit zwischen ihren Eltern. Dora und Hans Conzett schafften für sie ein Zuhause in ihrem Haus in Schiers. Sie erlebten und gestalteten ein Stück Schweizer Sozialgeschichte, ohne es zu wissen.

«Elfjähriger Junge sucht Pflegeplatz». Mit dieser Annonce begann der Weg einer vielseitig begabten Frau. Sie lebte damals in Klosters, war verheiratet und hatte bereits zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, als sie ihr erstes Pflegekind aufnahm. Leider ging ihre Ehe wegen einer neuen Beziehung ihres damaligen Mannes in die Brüche. Dora zog nach der Scheidung in einen der ersten Wohnblocks im vorderen Prättigau und nahm Heimarbeit an. Bereits in den sechziger Jahren führte eine verheiratete Lehrerin in Grüsch den ersten Kindergarten, vom Frauenverein gegründet und getragen. Doras Kinder waren im Kindergartenalter und so entstand eine Beziehung zur fortschrittlichen Institution. Das Interesse und die Ausstrahlung der jungen Mutter blieben nicht unerkannt. Die Anfrage, ob sie den Kindergarten führen würde, nahm sie mit Freude an, konnte sie so auch ihre eigenen Kinder mit zur Arbeit nehmen. Während eines Spitalaufenthaltes in Schiers, lernte sie Hans Conzett kennen, der im Reinigungsdienst des Krankenhauses arbeitete. Auch Hans war mit zwei kleinen Buben allein. Die beiden Alleinerziehenden kamen sich näher und entschlossen sich für einen gemeinsamen Weg mit bereits fünf Kindern. Nach einigen Hindernissen und Einsprachen konnten sie ihr eigenes Haus in Schiers bauen. Der neue Ehebund, das neue Daheim wurden zum Segen für die eigenen und die dazugekommenen Kinder. Dank Dora Conzetts Organisationstalent gelang es, Grossfamilie und Beruf zu verweben.

Das Sozialwesen braucht Nischen

Aussergewöhnliche Lebensformen wecken Skepsis, Ablehnung oder Bewunderung in der Gesellschaft. Familie Conzett ging unbeirrt ihren Weg nach dem Motto. «Unsere und andere bedürftige Kinder müssen es besser haben als wir es selber erlebten. Sie brauchen ein Daheim.» Durch die Kindergartenarbeit und einen wachen Sinn, kam ein kleines Mädchen dazu, dann auch dessen Bruder, der von seiner überforderten Mutter im Zimmer eingeschlossen dahinvegetierte. Später wurde ein munterer Junge an der Türe abgegeben, mit den Worten, man würde ihn wieder abholen. Er blieb und wurde nach längerer Zeit zu seiner Mutter nach Zürich platziert, behördlich verordnet. Nach rund zwei unruhigen Jahren durfte er zurückkehren, in den geordneten Schierser Familien- und Schulalltag. – Doras eigene Tochter habe zu ihr gesagt, sie hätte lange geglaubt, dass sie alle zusammen richtige Geschwister seien. Die Offenheit und Selbstverständlichkeit, auch in den grössten Wirrnissen die Ruhe zu bewahren und die Zuneigung aufrecht zu halten, waren Doras Stärken. Sie hat Geduld und hält eigene Emotionen unter Kontrolle. Sie hat Einfühlungsvermögen, vermeidet jedoch das Übermass an Gefühlen den Kindern gegenüber, damit diese nicht zusätzlich bedrängt werden. Ihre Erfahrungen, einerseits vom Kindergarten, andrerseits von zuhause, ergänzten sich in jenen Jahren gut. Sie begleitete die Kinder, die in der Sonne heranwuchsen wie diejenigen von der Schattenseite, bei denen es in der Seele dunkel und düster geworden war. Dora führte junge Menschen ins Licht. Das Haus Conzett war immer eine private Nische und keine Institution.

Alltag im Haus Conzett
Während dreissig Jahren führte Dora Conzett den Kindergarten im Nachbardorf Grüsch. Zwischendurch absolvierte sie eine berufliche Weiterbildung, die ihr zur vollen Anerkennung verhalf. Ihr zuverlässig eingehaltener Zeitplan sorgte für Vertrauen und Sicherheit der vielen Kinder. Manchmal waren es zuhause acht an der Zahl. Der grosse Haushalt mit Mahlzeiten, Wäsche, Einkauf, Fahrten für das eine und das andere… wurde vor allem von Doras Sohn, Tochter und Ehemann mitgetragen, die auch über Mittag Verantwortung wahrnahmen. Zudem verbrachte das «Tanti» während zehn Jahren seinen Lebensabend in der Grossfamilie. Das Zvieri war wichtig. Es gab oft nach der Schule vom einzelnen Kind etwas zu erzählen. Wenn möglich machte Dora den Abwasch selber, denn während dem Abtrocknen kamen die besonderen Anliegen der Kinder zur Sprache. Eine Abwaschmaschine wurde bewusst nie angeschafft. Das Fernsehprogramm wurde im Voraus abgesprochen. Die Tage waren randvoll ausgefüllt, sodass für die Vielfachmutter keine Zeit für Eigenes verblieb. Doch die Ideen, die Familie zu beschäftigen blieben nie aus. Die Pfadfinderbewegung und das Betreiben einer Brockenstube in Grüsch forderten einiges an Aufwand.

Gegenwart einer «grossen Mutter»

Je zwei Enkelkinder von Sohn und Tochter in Zürich erfreuen Dora Conzett. Im Haus ist es ruhig geworden. Hans Conzett ist 2018 nach einer schweren Krankheit gestorben. – Spontane Besuche der gemeinsamen Schützlinge bringen Abwechslung, Freude und manchmal Sorgen. Doch das Loslasse musste Dora lernen. Es gab Momente, wo sie beratende Hilfe brauchte, die sie von Vreni und Siegfried Müller, Pfarrer, in Grüsch bekam. Die jahrzehntelange Freundschaft mit Margrit in Zürich hat bis heute eine tiefgreifende Bedeutung. Die beiden Frauen unternehmen oft etwas gemeinsam. Dora wanderte nach der Pensionierung in Etappen nach Zürich zu ihr. Es ging über Land zu einem Bahnhof, dann per Bahn zurück, um später am selben Ort die Wanderung fortzusetzen.

Kindheit im Zürcher Sihltal
Dora ist 1944 mit vier Geschwistern in einer Arbeiterfamilie von Adliswil aufgewachsen. Ihr Vater war Waldarbeiter. Frühmorgens begleitete ihn Dorli freiwillig vor der Schule zur Arbeit. Er war mit einer Motorkarette für das Werkzeug in den entfernten Sihlwald unterwegs, schlug Holz, sägte, spaltete und füllte Säcke. Diese führte er tagsüber mit dem Leiterwagen zur Kundschaft. Die Lebensbedingungen waren in der Nachkriegszeit für eine grosse Familie äusserst karg. Die Mutter war überfordert und so erlebte Dorli auch das Leben im Kinderheim. Im Verein «Junge Kirche» hörte sie als Siebzehnjährige von einer Ausbildung zur Kleinkinderpflegerin und -erzieherin. Unerschrocken und selbständig unterschrieb sie die Anmeldung und ging mit jugendlicher Energie auf das Leben los. In dieser Ausbildung und Arbeit mit Kindern lernte sie Institutionen kennen, das Füttern mit Brotbrocken in Milch, die Gehversuche zurückgebliebener Kinder, die Notwendigkeit der Gemeinschaft, Sprachbildung und des Spiels. Armut und Mangel an Pflegepersonal liessen einer gesunden Entwicklung vieler Kinder keinen Spielraum. Dora Conzett hatte nie einen Sitz in den Gründungsgremien der Frauenbewegung. Sie blieb als gewissenhafte Arbeiterin im weiten sozialen Feld für die Menschlichkeit, die im Kindesalter beginnt.

Bild: zVg
Elisabeth Bardill