Der Ordner steht seit kurzem in der Laubänähus-Bibliothek und lädt ein, darin zu blättern. Er wurde
zusammengestellt von Hans Thalmann, dem früheren Stadtpräsidenten von Uster, der seit Kindsbeinen Ferien in St. Antönien verbringt und die ganze Geschichte als Berater der Talschaft miterlebt hat.
2002: Die Lawinen sind gebannt
Gleich am Anfang stösst man im Ordner auf eine Handnotiz vom 12. Juli 2002. Ein Stammgast findet, die Lawinen seien dank der Verbauungen gebannt und aus dem Thema könnte man doch jetzt Wert schöpfen. Die Notiz entstand in den Vorabklärungen zum Projekt «Zukunft Talschaft St. Antönien». Hans Thalmann war im Jahr zuvor vom Gemeindevorstand St. Antönien beauftragt worden, gemeinsam mit Ascharina ein Leitbild für die Talschaft zu entwickeln – in der Hoffnung es komme später zu einem Zusammenschluss. Im Ordner folgt dann die «Lagebeurteilung Juli 2003». Als Stärke wird darin «die Lawinen sind gebannt» genannt und als Chance für die Zukunft das «Um-münzen des Themas Lawinen». Einige Jahre später nach geglückter Fusion ist im Leitbild der neuen Gemeinde vom «Lebensraum geschützt von Lawinen» die Rede.
2008: Ein Infozentrum am Lawinenhang?
Ein nächstes Dokument stammt aus dem Jahr 2008. Es ist eine Skizze von Jann Flütsch, die ein Haus in
Schräglage mitten im Lawinenhang zeigt. Darunter die Bemerkung «Eröffnung 2010. 75 Jahre nach dem Lawinenwinter 1935». Auf einem Foto ist ein entsprechendes Kartonmodell abgebildet. Dann zeigen Dokumente, wie intensiv das Projekt weiterentwickelt wird: Eine Skizze aus dem Jahr 2011 vom Standort ob dem Meierhof mit Blick auf die umliegenden Lawinenhänge, ein Protokoll eines Workshops mit auswärtigen Fachleuten, der Entwurf einer 42-seitigen Machbarkeitsstudie, Mails zwischen Jann Flütsch und dem Architekten Gion A. Caminada, der an einer Sitzung im Postkeller teilnahm und in der Folge an der ETH eine Semesterarbeit «Informationszentrum am Lawinenhang» ausschrieb. In einem Zwischenbericht von Anfang 2016 schreibt Jann Flütsch, die Ausschreibung sei auf reges Interesse gestossen, habe aber kaum umsetzbare Vorschläge gezeitigt «Doch wir bleiben dran. Ein Lawinenhaus passt strategisch ideal nach St. Antönien. Packen wir es!?»
2018: «Umgang mit der Lawinengefahr» wird gelebtes UNESCO-Kulturerbe
Im Sommer 2016 wird Hans Thalmann an einen Workshop des Bundesamtes für Kultur (BAK) eingeladen. Es geht um die Vorbereitung einer UNESCO-Kandidatur «Umgang mit der Lawinengefahr» als gelebtes Kulturerbe. Mehrmals wird St. Antönien als Hotspot erwähnt, was Thalmann unverzüglich Jann Flütsch berichtet. Dieser begrüsst die Bemühungen und übergibt Thalmann die bisherigen Infozentrums Akten. Im Herbst 2016 bereinigen das BAK und Thalmann im Dossier zuhanden der UNESCO den Passus über St. Antönien. Erwähnt werden darin auch das geplante Lawinen-Informations-Zentrum und das Buch «Oder das Tal aufgeben» mit den preisgekrönten Aufnahmen der Lawinenverbauungen. In einem Brief vom 16. Januar 2017 begrüsst der Gemeindevorstand Luzein die UNESCO-Kandidatur mit den Worten: «Der Umgang mit der Lawinengefahr war für die Talschaft St. Antönien lebenswichtig. Ohne die umfangreichen, ständig erneuerten Schutzeinrichtungen gäbe es die Fraktion St. Antönien gar nicht mehr. Diese grosse politische, technische und kulturelle Leistung kann nicht genug gewürdigt werden». Ein Jahr später beauftragt der Gemeindevorstand Luzein Hans Thalmann, das Projekt «UNESCO Tal St. Antönien» zu starten. Ziel 2035: Im St. Antöniertal erleben jung und alt von nah und fern mit allen Sinnen den Umgang mit Naturgefahren, wie er gestern war, heute ist und morgen möglicherweise sein wird». Am 29. November 2018 beschliesst die UNESCO, den «Umgang mit der Lawinengefahr» ins immaterielle Kulturerbe der Menschheit aufzunehmen. Ein Signal, jetzt erst recht vorwärtszumachen.
Dies belegen im Ordner die Dokumente aus dem Jahr 2019. Im März wählt der Gemeindevorstand eine Spurgruppe und eine breit abgestützten Begleitgruppe. Deren Hausaufgaben werden im Sommer ausgewertet und bilden im Herbst die Grundlage eines Workshops im Schulhaus St. Antönien. Dessen Ergebnisse sind in einem bebilderten Dossier zusammengefasst. Und im November beschliesst der Gemeindevorstand Luzein zwei Schwerpunkte daraus weiter zu verfolgen: Die Talgeschichte zu sichern und das leerwerdende Schulhaus zu nutzen. Dabei übernimmt die Kulturgruppe St. Antönien mit ihrem Präsidenten Jann Flütsch die tragende Rolle.
2022: Die Idee Lawinenhaus «chunnt z Bode»
Nicht weniger als 45 Dokumente von 2020 bis 2022 zeigen, wieviel es braucht bis «eine Idee z Bode chunnt» – wie Jann Flütsch jeweils zu sagen pflegt. Im Januar 2020 wird der frühere St. Antönier Pfarrer Holger Finze als Leiter des Projektes «Kulturarchiv und Talgeschichte» gewählt. Er macht sich mit Elan an die Arbeit, sammelt Unterlagen und entwirft eine Schriftenreihe zur Talgeschichte, bringt trotz Corona bereits im Herbst 2020 seine «Geschichte der St. Antönier Lawinen» aus dem Jahr 1988 neu heraus, skizziert wie im Schulhaus das Thema Lawinen erlebbar gemacht werden könnte und dreht vier Kurzvideos, in denen Zeitzeugen ihre traumatischen Lawinenerlebnisse schildern. An der Generalversammlung der Kulturgruppegruppe im Juni 2021 berichtet der Präsident, der Kanton zahle CHF 50 000 an das Projekt, das jetzt «Mit den Lawinen leben» heisst. Ein Jahr später orientiert er an der GV, im Schulhaus stehe für das Lawinenmuseum kein idealer Raum zur Verfügung. Darum habe sich der Vorstand entschlossen, das Talmuseum «Postchäller» in ein «Laubänähus / Haus der Lawinen» umzugestalten. Mit der Einladung zur Eröffnung des Laubänähus am 17. Dezember 2022 und mit den begeisterten Medienberichten darüber endet die Dokumentensammlung.
Was in diesen letzten Monaten alles geleistet wurde, darüber gibt der Ordner keine Auskunft. Doch wer sich im Laubänähus umsieht, erkennt rasch, wieviel gute Ideen, wieviel handwerkliches Geschick und wieviel unermüdlicher Einsatz dahinterstecken. Das hauseigene Kleinkino, die nachgebaute «Meierhof-Stube» mit dem Lötscher-Kachelofen, die ausgedienten Betonelemente vom Chüenihorn begleitet von Baulärm, all das spricht für sich. Möge der Kulturgruppe ihre Einsatzfreude erhalten bleiben. Denn auch das beste Museum muss immer wieder erneuert werden, um attraktiv zu bleiben. Und im Dokument Nr. 72 der Vorgeschichte schlummern noch immer einige Ideen, die das UNESCOTal St. Antönien anpacken könnte…