Im Keller an der Via Maistra 137 in Pontresina richtet Alfred Lochau auf einer Bockleiter stehend die Deckenspots in die gewünschte Richtung, nickt zufrieden und steigt wieder herunter. Seine Frau Margrit wirft einen kontrollierenden Blick auf die seidene Halskordel, welche gemeinsam mit einer Brosche sein weisses Hemd ziert und nickt auch zufrieden. Locker platzieren sich die Beiden zwischen zwei mannshohe, uralte Fotokameras aus Holz. Sie lächeln in die Linse einer modernen Digitalkamera, und zehn Sekunden später ist das Foto des Ehepaars Lochau gespeichert. Es ist das wohl letzte, das an diesem Ort entsteht. Alfred und Margrit Lochau-Bernet, Inhaber von Foto Flury, dem ältesten Fotogeschäft der Schweiz. Morgen löschen sie die Lichter, bleiben die Storen unten, endgültig, nach 159 Jahren.
Der Gründer und das Fotomuseum
Foto Flury wurde als «Geschäft für Hochgebirgsfotografie» im Jahr 1863 durch Alexander Flury gegründet. Flury, geboren 1825 in Saas im Prättigau und Bürger von Conters, dürfte um Mitte 1850 ins Oberengadin gezogen sein, wo er sich als Fotograf und Bergführer betätigte und als Erstbesteiger des Piz Palü, aber auch der La Sella berühmt wurde. An der heutigen Via Maistra 137 in Pontresina erbaute er ein Holzchalet für sein Fotogeschäft mit dazugehörendem Fotostudio. Über 100 seiner Bergführer-Kollegen liessen sich über die Jahre in seinem Studio ablichten, auf Glasplatten bannen mit einer der beiden hölzernen Kameras, zwischen denen das Ehepaar Lochau für das Digitalfoto Platz nahm. Der Keller, in dem die beiden uralten Studiokameras ausgestellt sind, ist Teil des Fotomuseums von Foto Flury, durch welches Alfred Lochau Interessierte seit 20 Jahren gerne geführt hat. Das Fotomuseum soll trotz der Schliessung von Foto Flury erhalten bleiben. Weit über 100 Kameramodelle samt Zubehör, von den Anfängen der Fotografie mit Silber-Halogenid beschichteten Glasplatten bis zur digitalen Technik sind in Vitrinen ausgestellt und zeigen die Entwicklung der Fotografie. Lochau hat vieles davon auf dem Dachboden gefunden, dazu vieles von Freunden und Bekannten erhalten. «Gekauft habe ich nichts», betont er.
Bildschätze bleiben zugänglich
Margrit Lochau ist derweil nach oben ins Geschäft gestiegen, eine Kundin sucht einen Bilderrahmen. Die Ladenglocke klingelt heute häufiger als sonst. Das liegt daran, dass bei Foto Flury auch Papeterie Waren und Souvenirs verkauft wurden, und diese zwecks Räumung zu stark reduzierten Preisen erhältlich sind. Im anderen Kellerraum öffnet Alfred Lochau einen alten Schrank. Knarrend gehen die Türen auf und fein säuberlich aufgereiht, durchnummeriert und verpackt in Originalcouverts präsentieren sich über tausend kleinformatige Glasplatten auf den Regalbrettern: Aufnahmen von Alexander Flury und Grossvater Oscar Lochau. Gegen 2000 grössere Glasplatten befinden sich auf dem Dachboden. Schaden nehmen sollten sie nicht, aber vorsichtshalber haben Alfred Lochau und sein Sohn Stefan diese 3000 Bilderschätze in jahrelanger Arbeit digitalisiert. 900 davon sind auf der Bilddatenbank der Fotostiftung Graubünden gespeichert. «Fredi, kommst du mal», ruft Margrit Lochau nach unten. Eine Stammkundin braucht Hilfe. Sie hat Probleme, ihre Handyfotos mittels einer App auf den Fotokiosk zu übertragen. Alfred Lochau hilft gerne und druckt der Kundin die gewünschten Bilder auch gleich aus, ein letztes Mal. Die Türglocke bimmelt wieder. Zwei Lieferanten holen bestellte Ware ab, über zehn grossformatige Leinwandbilder, bedruckt mit historischen Landschafts-Aufnahmen aus dem Archiv von Foto Flury. Bald schon werden diese die Wände von privaten Wohnzimmern und Hotel-Eingangshallen zieren. «Auch wenn wir unser Geschäft schliessen, diesen Dienst bieten wir weiterhin an», sagt Alfred Lochau.
Drei Generationen Lochau
Dass ihre Bergfotos – oft entstanden unter mühseliger Schlepperei der über 50 Kilo schweren Foto-Ausrüstung – heute noch Anklang finden, würde die Vorfahren von Alfred Lochau sicher freuen. Alexander Flury starb 1901. Seine Tochter Albertine Sappeur-Flury übernahm das Hauptgeschäft in Pontresina und die Winterfiliale in St. Moritz ab 1904 mit Hilfe von Oscar Lochau (1882-1945). Im norddeutschen Salzwedel aufgewachsen, machte dieser die Lehre als Fotograf, ging auf Wanderschaft und landete im Engadin. 1909 übernahm Oscar Lochau das Fotogeschäft. Nach seinem Tod folgte Sohn Gustav (1910-1978), der Vater von Alfred. Alfred Lochau selbst erlernte seinen Beruf in Chur beim Fotogeschäft Vonow und übernahm 1978 nach dem zu frühen Tod seines Vaters das Geschäft. Er war es auch, der es um die Papeterie ergänzte. Viel Ballast wird das Ehepaar Lochau dort nicht haben, die Verkaufsregale sind an diesem zweitletzten Tag fast leer. «Die guten Zeiten des Fotogeschäfts sind definitiv vorbei», stellt Alfred Lochau, vor dem Geschäft stehend fest, ohne Bitterkeit in der Stimme. Es sei Zeit aufzuhören, zumal er mit 71 Jahren längst pensioniert sei. Es ist Feierabend. Lochau schiebt den Postkartenständer ins Ladenlokal. Er dreht den Schlüssel der Eingangstür. Morgen wird er das zum letzten Mal tun.