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Malans
07.03.2022

«Die Kleinarbeit aktiver Parteien trägt Früchte»

Paola Giovanoli Calcagno ist seit Juni 2021 Malanser Gemeinderätin und Co-Präsidentin Schulkommission.
Paola Giovanoli Calcagno ist seit Juni 2021 Malanser Gemeinderätin und Co-Präsidentin Schulkommission. Bild: M. Ferrari
Am Dienstag, 8. März, wird weltweit der Internationale Frauentag begangen. Auch in Graubünden, wo die diesjährigen Aktivitäten, die von der Frauenzentrale und dem Frauen*streikkollektiv in Chur organisiert werden, im Zeichen der kommenden Grossratswahlen stehen. P&H hat Paola Giovanoli Calcagno, Malanser Gemeinderätin und Mitglied des Parteivorstands der Bündner SP, zum Thema ein paar Fragen gestellt.

P&H: Welche Bedeutung hat der Internationale Frauentag für Sie als Frau? Als Politikerin?
Paola Giovanoli Calcagno: Dieser Tag hat für mich eine eher symbolische Bedeutung. Die Frauenzentrale Graubünden organisiert jeweils spannende Anlässe, es ist ein guter Tag um sich zu vernetzen. Politisch ist mir allerdings der 14. Juni wichtiger. Mit 500 000 Frauen und solidarischen Männern am Frauenstreik von 2019 durch die Strassen zu laufen hat ermutigt und beseelt: Im Herbst wurden plötzlich viel mehr Frauen in den Nationalrat gewählt, aktuell sind es über 40 Prozent, auch in der Landesregierung.

In Chur wird am Frauentag mit einer Diskussion zur Quotenfrage und einer Strassenaktion die 50:50-Kampagne lanciert. Was ist damit gemeint und warum ist dies aus Sicht der Frau wichtig ist?
Am 5. März 1972 bekamen die Bündnerinnen das kantonale Stimm- und Wahlrecht. Sie machen die Hälfte der Bevölkerung aus. Doch im Grossen Rat sitzen heute 94 Männer und nur 26 Frauen. Wächst der Frauenanteil gleich schnell weiter wie seit 1972, dann warten wir noch 60 Jahre, bis Gleichstellung im Rat herrscht. Ich würde diese Gleichstellung aber gerne noch erleben. Ziel der Kampagne 50:50 ist, dass Frauen und Männer gleichermassen vertreten sind. Wir fordern deshalb eine ernsthafte Diskussion zur Quotenfrage. Und wir fordern die Bevölkerung auf, gleichstellungsfreundlich zu wählen. Nur die SP und die Grünen haben ihre Listen ausgewogen aufgestellt. Warum?

Vielleicht, weil Qualität wichtiger ist als Quantität?
Ich frage zurück: Sind wir ehrlich, ist die Qualität aller 94 Männer, die jetzt im Grossen Rat sitzen, unbestritten? Müsste man nicht auch bei den 80 Prozent der männlichen Bündner Gemeindevorständen und -präsidenten nach Qualität vor Quantität fragen? Sind alle Männer, die weltweit politische Ämter einnehmen, per se über jeden Zweifel erhaben?

Das ist eine gute Frage. Warum glauben Sie, wagen allgemein nur wenige Frauen den Schritt in die Politik?
Es braucht Selbstvertrauen und ein bisschen Mut. Diesen Schritt müssen wir Frauen machen. Und es braucht ein bisschen Hartnäckigkeit der Parteien. Hin und wieder eine E-Mail an alle weiblichen Parteimitglieder zu schicken, reicht nicht. Erfolgreich war ich zum Beispiel mit kleinen, privaten Frauenrunden. Beim letzten Mal stand eine langjährige Grossrätin Rede und Antwort. Alle Beteiligten haben sich nachher für die Grossratswahl aufstellen lassen, obwohl sie erst sehr skeptisch waren. Die Kleinarbeit aktiver Parteien trägt Früchte. Noch sind es vorwiegend links-grüne Parteien, die gleichviel Frauen wie Männer aufstellen, aber das sollte die anderen Parteien eigentlich nur ermuntern: Hey, das schaffen wir auch!

Welche Voraussetzungen müssten geschaffen werden, damit Frauen vermehrt für ein politisches Amt kandidieren würden?
Zu guter Letzt muss einmal mehr über die Arbeitsverteilung geredet werden. Wenn die politische Arbeit gerechter verteilt werden soll, muss auch die unbezahlte Hausarbeit, die Familienarbeit, die unbezahlte Betreuungsarbeit gerechter verteilt werden. Ich kann nicht in den Grossen Rat, den Haushalt schmeissen, meinen Kindern und den Kranken in der Familie schauen und gleichzeitig noch Karriere im Betrieb machen.

Was hat Sie persönlich bewogen, in die Politik zu gehen?
Mich persönlich interessiert die Möglichkeit, das öffentliche Leben zu gestalten. Darum habe ich auch schon für den Grossen Rat und für den Nationalrat kandidiert und war letzten Herbst für zwei Tage Mitglied der Frauensession in Bern. Für den Malanser Gemeinderat habe ich kandidiert, weil mir Diversität im Gemeinderat wichtig scheint: Er soll die Bevölkerung widerspiegeln, und darum Jung und Alt, Links bis Rechts und eben alle Geschlechter vertreten.

Paola Giovanoli Calcagno: «Die Gesellschaft muss sich verändern, damit sich die Mädchen für Politik und die Jungs für unbezahlte Arbeit interessieren.» Bild: M. Ferrari

Unter anderem weiss ich, dass Sie für verschiedene Ämter und Stellen kandidiert haben. Manchmal wurden Sie gewählt, manchmal nicht. Was hat Sie motiviert, immer wieder weiterzumachen?
Motiviert hat mich das politische Interesse, meine Familie, mein feministisch geprägtes Umfeld. Spannend ist vielleicht aber auch die Frage: Wann machte ich nicht weiter? In dem Moment, als mein Mann starb. Da fehlte mir mit zwei Kindern die Hilfe und Unterstützung zu Hause. Diese haben Politiker, so scheint mir, häufiger und wir Frauen brauchen die eben auch.

Sie sind Berufsschullehrerin am BGS, unterrichten dort Allgemeinbildung und Politik und haben viel mit jungen Menschen zu tun. Wie gross ist deren Interesse für Politik?
Nicht immer sehr gross. Viele denken, dass alles was wir haben «normal» ist. Dabei muss unsere Demokratie verteidigt werden. Dieses oft so wunderbar funktionierende Land ist eine Errungenschaft. Diese gilt es zu bewahren, und das braucht politisches Engagement. Ich versuche, diesen Samen im Politikunterricht zu pflanzen: Seid aktiv, egal in welcher Partei oder Gruppierung. Gestaltet mit! Übrigens sind in der Berufsschule viele junge Menschen aus anderen Ländern. Gerade wer aus einer Diktatur geflohen ist, gibt mir darin recht, wie wichtig eine Demokratie und wie schön ein Stimm- und Wahlrecht ist.

Wie stehen die jungen Frauen, die Sie unterrichten, dem Thema «Gleichberechtigung von Frau und Mann» gegenüber?
Wie ich vor 30 Jahren halten auch heute junge Frauen und Männer die Gleichstellung für «normal». Ich freue mich über die Selbstverständlichkeit und das Selbstbewusstsein. Doch sobald wir ein bisschen diskutieren, bemerken wir Risse in der vermeintlichen «Normalität»: Es gibt anscheinend immer noch typische Frauen- oder Männerberufe, ein Blick in die Klasse genügt. Junge Frauen haben fast alle Erfahrungen mit sexueller Belästigung, junge Männer nicht. Doch junge Männer möchten Teilzeit arbeiten und werden je nach Arbeitsstelle ausgelacht. Junge Frauen leiden unter den Nebenwirkungen hormoneller Verhütung, ihre Freunde können sie nicht entlasten, weil ihnen die anderen Möglichkeiten zu unsicher sind. Doch sind erstmal Kinder da, ist Rollenteilung schnell entlang der «Wer verdient mehr»-Grenze gemacht. Männer haben weniger Möglichkeiten, sich zu entscheiden, ob sie Teil- oder gar Vollzeit zu Hause bleiben wollen. Die Liste lässt sich verlängern, und darüber sollte häufig diskutiert werden. Das könnte das Verständnis für Gleichstellung von Mann und Frau stärken.

Sie sind Co-Präsidentin der Malanser Schulkommission: Was müsste an unserem Schulsystem verändert werden, damit sich Mädchen und junge Frauen sich mehr für Politik interessieren und allenfalls auch eine Karriere als Politikerin in Betracht zögen?
Unser Schulsystem macht das nicht schlecht: Es geht um ein Vorleben, es geht um Demokratie, gleichen Zugang für alle. Als ich jung war, durfte ich noch nicht in die Geometrie, die Jungs nicht in die Handarbeit und italienische Kinder durften bei uns zum Teil gar nicht in die Schule. Heute ist alles allen offen. Das gilt auch für Lehrpersonen: Mehrere junge Väter arbeiten an unserer Schule Teilzeit, im Kindergarten arbeitet auch mal ein Mann als Kindergartenlehrperson. Das sind wichtige Rollenvorbilder. Ebenso gefällt mir der Zukunftstag, wo Mädchen und Jungs auch mal bei untypischen Berufen schnuppern gehen können. Aber eigentlich finde ich, die Gesellschaft muss sich verändern, damit sich die Mädchen für Politik und die Jungs für unbezahlte Arbeit interessieren: Ihnen fehlen (noch) die Vorbilder. Sie müssen ermutigt werden. Ihnen muss Zeit gegeben werden. Wie schade, wenn da je nach Geschlecht Türen verschlossen wären.

Ladina Steinmann