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Kanton
21.09.2024

«Kirchen sind das Gegenbild zur Architektur der Gegenwart»

Bild: zVg
«Bilderschatz und Sterngewölbe» heisst das neue Buch des Fläschers Köbi Gantenbein, welches vor kurzem erschienen ist. Darin dreht sich alles um die faszinierende Kirchenlandschaft im Unterengadin. Köbi Gantenbein, langjähriger Chefredaktor und Verleger von Hochparterre und passionierter Wanderer, hat die 30 Kirchen zwischen Brail und Martina besucht. Er berichtet über ihre Architektur, die Kirchen-, Kunst- und Sozialgeschichte aus dem Unterengadin und ist dabei auf interessante Geschichten gestossen.

Kirchen seien Geschichtenkisten, sagt Köbi Gantenbein auf die Frage, was ihn an den alten Glaubensgebäuden fasziniert. «Sie erzählen Geschichten der Architektur – wie die grossen Häuser bauen? Wie die oft grossartigen Innenräume hinkriegen? Wie ist ein Haus gebaut worden, das 500 Jahre alt und noch lange gut zu brauchen ist? Kirchen sind wunderbare Räume des Trostes und bis heute Orte für Gemeinschaften. Die sind zwar klein geworden, aber sie treffen sich, sie singen, beten und haben eine gute Zeit. Kirchen sind schliesslich Geschichten des Unten und Oben in der Gesellschaft – ich studiere darüber nach, wie es in den Gesellschaften breiter Armut seinerzeit gelungen ist, diese grossen Häuser zu bauen.» Er habe grossen Respekt davor, wie gut die Kirchgemeinden, die Gemeinden und der Kanton die Kirchen im Schuss halte. Zugleich denke er in seinem neuen Buch darüber nach, was aus all ihnen wohl werden wird.

Perlensuche in den Archiven
Die Initialzündung zum Buch liege, wie viele Geschichten in den ehrwürdigen Mauern schon ein paar Jahre zurück. «Meine Musikerfreundin Magda Vogel und mein Musikerfreund John Wolf Brennan waren im Künstlerhaus Nairs bei Scuol in den Ferien und sprachen zu mir: ‘Lass uns die Kirchen zum Klingen bringen! Lass uns eine öffentliche Wanderung machen von Brail bei Zernez bis nach Martina, wo das Unterengadin bald aufhört.’» Aus der kleinen Idee entstand eine Wanderung, der seit 15 Jahren immer gut siebzig Gäste beiwohnen und bei der von Kirche zu Kirche in Etappen von drei bis vier Kirchen im Jahr «gezottelt» werde. «Meine Aufgabe ist es, in jeder Kirche eine Geschichte zu erzählen. Und so stieg ich in die Bibliotheken und Archive, trug Geschichten zur Religion, zur Landschaft, zur Architektur und zur Kunst zusammen. Und Geschichten zum Leben der Leute, die im Unterengadin in der frühen Neuzeit lebten als ein grosser Teil der Kirchen gebaut oder umgebaut worden ist.» Zu den Texten gesellten sich für das Buch die Bilder vom Malanser Fotographen Ralph Feiner. Zudem steuerte die polnische Künstlerin Agnieszka Kozlowska einen Film bei, der aufzeige, «wie wir es gut haben mit den Gästen und von Kirche zu Kirche wandern und Musik machen.» Auf seiner Suche stiess Gantenbein auch immer wieder auf aussergewöhnliche Geschichten und Kuriositäten, wie beispielsweise die grosse katholische Kirche in Martina, in der fast alle Häuser des Dörfleins Platz finden würden. «Die Kapuziner von Tarasp, der einzigen katholischen Gemeinde im Unterengadin, spekulierten, dass die Eisenbahn durchs Tal nach Landeck geführt werde. Sie wollten gerüstet sein, wenn ein grosser Grenzbahnhof mit Hotels, Lagerhäuser und allem Drum und Dran gebaut würde, betrieben von katholischen Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Surselva und Italien. Aus der Eisenbahn wurde nichts, die Kirche aber steht da mit einem Nebenhaus für eine Schule, Gästezimmern und einer grossen Pfarrerwohnung. Die Kirche ist ein grosser Wartsaal des Lieben Gottes mit Platz für fünfzig Mal mehr Leute als heute in Martina leben.» 

Keine Kirche wie die andere
Sozialgeschichtlich aussergewöhnlich ist laut dem Fläscher die Evangelische Kirche von Ardez. «Hier beschloss die Synode der Pfarrer 1790 einen Streik für mehr Lohn. Mit kräftiger Propaganda, Streitkomitee, Ultimatum und Ausschluss der Streikbrecher waren die Pfarrer so versiert im Arbeitskampf wie in den grossen Städten die streikenden Arbeiter hundert Jahre später. Die Pfarrer sind allein auf weiter Flur in Graubündens Geschichte der Arbeitskämpfe – und sie waren erfolgreich. Ihre Löhne wurden erhöht und die Kasse der Drei Bünde zahlten ihnen künftig gar die Reise an die Synode, den Ort des Aufstandes.» So habe jede Kirche ihre eigene Sozial- und auch  Baugeschichte. Jede sei anders und habe dennoch die gleiche Aufgabe wie die der Nachbargemeinde. «Das ist das Gegenbild zur Architektur der Gegenwart, die immer gleicher wird von Palermo bis Hammerfest. Diese Vielfalt der 30 Kirchen gefällt mir, der unterschiedliche Klang ihrer Innenräume, die Setzung im Dorf, und auch die Vorstellung, wie die virtuosen, herumreisenden Steinmetze zusammen mit den Fronarbeitern aus den Dörfern die grossen Häuser mit Material aus der Umgebung gebaut haben – ohne Menzi-Muck. Pneukran und Bauchemie.»

Bis heute ein Ort der Gemeinsamkeit

Besonders fromm müsse man nicht sein, um sein neues Buch spannend zu finden, sagt Gantenbein. «Das Buch ist eine breit angelegte Kultur-, Sozial- und Landschaftsgeschichte eines Tals.» Er selbst sei evangelisch aufgewachsen und der Kirche im Lauf des Lebens etwas verloren gegangen. «In den 15 Jahren Kirchenwandern und -lesen, habe ich anschaulich aber gelernt, was ich im Kopf wusste: Die Kirche, die Religion, hat für die Geschichte eine faszinierende Kraft und Wirkung. Als Macht, aber auch als Trost, als Bildungsanstalt, aber auch bis heute als Ort für Gemeinsamkeit. Ich erzähle das mit meinen Geschichten. Und ich lade auch zum Staunen ein. Es ist erhebend, in einem Kirchenraum zu sitzen, ‘der Mond ist aufgegangen’ zu singen und zu hören, wie der Klang langsam im grossen Raum verschwindet.» Ausserdem habe er das Buch ganz praktisch  auch als Wanderbuch angelegt. «So wie die Kirche ja alle einlädt, hinein zu sitzen, so sind fast alle Wege zwischen den Kirchen schöne Wanderwege; gut zu machen für die Kampfwanderer, die in den Kirchen etwas zur Ruhe finden können. Und gut zu machen für die Kinderwagenschieber und die Rollatorfahrerinnen, die kommod von Kirche zu Kirche wandern – oder sich da und dort einen Überbrückungskredit mit dem Postauto oder der RhB gönnen können.»

Die drei glücklichsten Stunden
Auch wenn der Herrschäftler mit Prättigauer Wurzeln offiziell im Sommer 2022 in den Ruhestand ging, so wirklich ruhig ist es um ihn nicht geworden. Das Schreiben begleite ihn schon seit frühster Kindheit.. «Mein Glück war, dass Schreiben in meinen vielen Jahren als Chefredaktor und Verleger auch Teil meines Berufes blieb, als ich mich vor allen darum zu kümmern hatte, dass Hochparterre inhaltlich, sozial und wirtschaftlich gedeiht.» Vor zwei Jahren habe er sich als Unternehmer pensioniert, nicht aber als Schreiber. «Ich schreibe aber nur mehr selten über Architektur und Planung, sondern eben über Kirchen oder über Musik. Auch schreibe ich verglichen mit einst nur mehr wenig öffentlich, meine Kolumne noch in der ‘Bündner Zeitung’ und eine in der Aelpler-Zeitschrift ‘Z Alp’. Viel aber schreibe für mich in den Tag hinein. Planlos, und wenn sich aus den Skizzen gelegentlich etwas ergibt, so entstehen daraus Libretti für eine Suite meiner Musigkapelle.» Und doch erscheint sein neustes Werk beim Verlag «Hochparterre». Köbi Gantenbein ist sehr zufrieden, wie sein Lebenswerk weiterlebt. «Eine glückliche Stunde war, als ich die Urkunde für die ‘Stiftung Mezzanin’ unterschrieben habe, mit der die Hochparterris und ich meine Nachfolge haben regeln können. Die Stiftung hält alle meine Aktien und sie gehört allen, die bei Hochparterre arbeiten. Das Kollektiv hat robuste Institutionen. Eine glückliche Stunde war, als ich von Ferne sah, wie die Hochparterris eine ernste Krise haben meistern können und meine drittglückliche Stunde war, als ich die letzte Jahresrechnung studiert habe – die Firma blüht wirtschaftlich.» Das neue Buch «Bilderschatz und Sterngewölbe» stellt Köbi Gantenbein zusammen mit dem Fotografen Ralph Feiner und er Buchgestalterin Barbara Schrag am 19. November um 19 Uhr in der Buchhandlung Lüthy in Chur vor. 

Christian Imhof